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Anja Maucher: „Fehlt uns die Lobby?“

Mitten in das infoboard-Interview mit Anja Maucher (Geschäftsführerin expert Herfag mit Standorten in Göttingen, Leinefelde, Mühlhausen, Nordhausen und Sonderhausen) über die Auswirkungen der Corona-Krise für ihr Unternehmen kommt die Nachricht über die Lockerungen von Maßnahmen im Einzelhandel, u.a. dass Geschäfte bis zu 800 Quadratmetern seit Montag wieder öffnen dürfen.

Die Details sind Ländersache. Was in Göttingen erlaubt ist, gilt nicht unbedingt im thüringischen Leinefelde – und umgekehrt. Und so schwankt das Gespräch mit Chefredakteur Matthias M. Machan zwischen Erleichterung und Ernüchterung. Den Kopf in den Sand zu stecken, das ist für die engagierte „expertin“ keine Option.

Bund und Länder haben sich bei ihren Beratungen über Lockerungen von Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie auch auf einige Punkte mit Blick auf den Einzelhandel verständigt. Was bedeutet das für Ihr Unternehmen?

Ich sehe es positiv, dass es überhaupt Lockerungen gibt. Es gab ja im Vorfeld auch viel pessimistischere Szenarien. Wünschenswert wären aber einheitliche Regeln für den gesamten Einzelhandel gewesen – ohne die diskriminierenden Auswirkungen auf Sortimente und Geschäftsgrößen.

Die Berichterstattung in den Medien in den letzten Wochen fokussierte sich vor allem das Schicksal der „Kleinen“. Über unsere Größenordnungen und Sortimente – immerhin sorgen wir für die technische Grundausstattung der Menschen – wurde kaum berichtet. Da mag die Frage schon erlaubt sein: Fehlt uns die Lobby?

Immer wieder war im Vorfeld der Entscheidung das Stichwort „Wettbewerbsverzerrung“ zu hören …

…die Frage stellt sich ja eigentlich schon seit der Schließungsanordnung. Wenn uns unsere Abholstationen geschlossen werden, nebenan, bei Real & Co, aber unsere Warengruppen in Massen verkauft werden, dann ist das de facto eine Wettbewerbsverzerrung.

Die Service-Points der Filialen wurden in von außen erreichbare Abholstationen umfunktioniert. In Göttingen wurde der Service-Point zwischenzeitlich durch das Ordnungsamt geschlossen.
Die Service-Points der Filialen wurden in von außen erreichbare Abholstationen umfunktioniert. In Göttingen wurde der Service-Point zwischenzeitlich durch das Ordnungsamt geschlossen.

Wie gehen Sie mit der Beschränkung von 800 Quadratmetern um?

Immerhin sind es 800 Quadratmeter, zunächst war ja über 400 Quadratmeter nachgedacht worden. 800 Quadratmeter sind in Niedersachsen für uns sicher umsetzbar. Wir setzen auf Flächenverkleinerung durch Absperrbänder und Ladenbauteile. Laut Ministerpräsident Weil soll die geplante schrittweise Öffnung auch für Läden mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 Quadratmetern gelten, sofern man die Öffnung auf diese Quadratmeterzahl beschränkt.

Das steht, Stand heute, im Gegensatz zu Thüringen, wo sich die meisten unserer Geschäfte befinden. Dort ist die Öffnung erst ab 27. April erlaubt, immer noch mit Fragezeichen, ob die Erlaubnis auch für Galerien gilt. Das schafft Verunsicherung, Unverständnis und eine Wettbewerbsverzerrung. Doch trotz allem: Wir stellen uns auf die jeweiligen Vorschriften und Möglichkeiten ein und nutzen weiter jede Chance, für den Kunden erreichbar und da zu sein. Und wir werden unseren Beitrag zur Eindämmung der Epidemie mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zur Einhaltung der Hygienevorschriften leisten.

Befürchten Sie jetzt eine Rabattschlacht?

In unserer Branche ist mit allem zu rechnen, eigentlich ist genau das zu erwarten.

Wie bekommt man das Vertrauen des Kunden in „seine“ Einkaufsstätte zurück?

Ich glaube, dass wir gerade jetzt das Vertrauen des Kunden stärken, indem wir trotz Krise für ihn da sind, für ihn liefern, anschließen und Probleme lösen. Was mir mehr Sorge macht, ist das Konsumverhalten, gerade auch mit Blick auf die vielen Menschen, die aktuell Kurzarbeitergeld beziehen. Wir haben ja nicht nur viele praktische Dinge im Sortiment, sondern eben auch Luxus.

expert Herfag feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Zum Feiern dürfte Ihnen nicht zumute sein. Das Jahr 2020 als schwierigste Prüfung in der Unternehmensgeschichte …

…das Jahr war durchgeplant mit Geburtstagsaktivitäten, der Fußball-EM, einem Umbau und Neueröffnungen. Unsere Aktivitäten sollten den Spannungsbogen mit vielen Highlights durch das gesamte Geschäftsjahr aufrechterhalten und zu einem erfolgreichen machen.

Und jetzt haben wir die schwierigste Prüfung in 30 Jahren Unternehmensgeschichte, an der ich nun seit 12 Jahren mitschreibe. Auf eine solche Situation waren wir nicht vorbereitet. Gleichzeitig müssen wir nach vorn schauen. Wir haben Verantwortung für 130 Mitarbeiter.

Ich habe die Wochen des „Shut-downs“ vor allem genutzt, um strategische Themen anzugehen: Was kann und muss weiter optimiert bzw. auf den Prüfstand gestellt werden? Wie sieht die Zukunftsplanung aus? Es war nach anfänglicher Frustration mein Aktionismus, der mich in dieser Krise gestärkt hat. Und ich erfahre in dieser Situation sehr, auf wen ich zählen kann. Diese Erfahrungen werden für mich richtungsweisend in der Zukunft sein.

Viel zu tun: Die Service-Transporter für die Auslieferung sind voll beladen.
Viel zu tun: Die Service-Transporter für die Auslieferung sind voll beladen.

Wie ließ sich nach der anfänglichen Schockstarre das Momentum für die Beziehung zum Kunden nutzen?

Wir waren ja wirklich die ganze Zeit für unsere Kunden da. Und es ging nicht nur um die großen Umsätze, sondern zum überwiegenden Teil um die kleinen Probleme und Baustellen. Viele Servicefälle, die Arbeit machen, aber erstmal nichts bringen. Aber die Kunden sind aufrichtig dankbar. Das zahlt langfristig auf die Kundenbindung ein.

Bei Herfag geht es ja von Beginn an nicht darum, dem Kunden um jeden Preis etwas zu verkaufen, sondern durch umfassende Beratung und Service sein Vertrauen zu verdienen …

…das war vorher schon so und jetzt noch mehr. Ein wichtiger Punkt sind die vielen persönlichen Beziehungen zwischen Mitarbeitern und Kunden. Das zahlt sich jetzt sehr aus. Wir sind der Ansprechpartner und Problemlöser vor Ort, der das Vertrauen seiner Kunden genießt.

Welches Echo bekommen Sie von Ihren Kunden?

Viele Kunden bekommen gerade ein Gefühl dafür, wie ein Leben in ihrer Stadt ohne den stationären Handel aussehen würde. Sie wissen es jetzt umso mehr zu schätzen, dass wir auch unter erschwerten Bedingungen für sie da sind.

Wie ist die Zusammenarbeit mit den Behörden jeweils vor Ort?

Da gibt es kaum Berührungspunkte und nur ganz vereinzelt Kontrollen. Leider wurde uns, wie vielen Kollegen schon zuvor, die Abholstation in Göttingen am Ostersamstag durch das Ordnungsamt geschlossen. Die Warenausgabe und der Service wurden komplett untersagt. Abgelehnt wurden auch alle Anträge auf Ausnahmegenehmigungen.

Haben Sie für die Liquidität des Unternehmens Zuschüsse beantragt?

Anspruch auf Zuschüsse haben wir leider nicht. Wir haben mehr als 50 und weniger als 250 Mitarbeiter – damit bekommen wir keine Soforthilfen. Vor einigen Wochen haben wir einen KfW-Kredit beantragt – allerdings fehlt darauf jede Rückmeldung.

Mir ist Ihr Appell im Göttinger Tageblatt aufgefallen: „Noch nie haben wir Sie als Kunden mehr gebraucht als jetzt. Helfen Sie uns beim Überleben und kaufen Sie Ihre Ostergeschenke bei uns. Sorgen Sie mit Ihrem Einkauf dafür, dass Göttingen vielfältig und lebendig bleibt. Unterstützen Sie die lokalen Geschäfte, die Ihnen wichtig sind, damit Göttingen nicht zur Geisterstadt wird.“

Auf den Artikel gab es absolut positive Resonanz. Die Telefone standen nicht still, vielen Kunden war trotz unserer Werbung in Zeitungen und auch online bis dahin gar nicht bewusst, dass wir weiter für sie da sind.

Weiter für die Kunden erreichbar: expert Herfag.
Weiter für die Kunden erreichbar: expert Herfag.

Welche Produktkategorien werden bei Ihnen derzeit vor allem nachgefragt?

Immer noch Kühl- und Gefriergeräte für die „Hamsterer“, alles für das Home-Office aber auch Spiele, Konsolen, Körperpflegeartikel wie Bartschneider – und Grills.

Wie läuft es mit der Solidarität unter den Kollegen?

Unter den Kollegen in der Verbundgruppe gibt es einen engen, sehr regelmäßigen Austausch über unsere Aktionen. Aber auch über die Verbundgruppen hinaus gibt es sehr persönliche Kontakte. Vor Ort indes ist die Situation sehr unterschiedlich. In den Shopping-Malls und Galerien finden sich meist große Filialisten, da ist wenig Solidarität zu spüren.

Wie gehen die Mitarbeiter mit dieser Krise um?

Die Mitarbeiter sind sehr solidarisch mit „ihrem“ Unternehmen. Wir standen und stehen dank WhatsApp und über die Marktleiter mit unseren Mitarbeitern in engem Kontakt. Viele Mitarbeiter machten ständig neue Portale ausfindig, auf denen wir uns registrieren konnten, um leichter gefunden zu werden. Und sie posten alle Herfag-Beiträge privat auf allen Social-Media-Kanälen. Sie basteln zu Hause Mundschutz für alle, bauen Hustenschutzwände… Das macht mich stolz!

Was macht die Krise mit Ihnen ganz persönlich, wie schalten Sie, und sei es auch nur kurz, jetzt ab?

Es gibt ja gerade jetzt jede Menge zu tun. Ich freue mich jeden Tag auf den Feierabend mit der Familie. Richtig den Kopf frei bekommen, das kann ich momentan beim Sport. Dank des guten Wetters seit Wochen habe ich meine Leidenschaft für das Joggen wiederentdeckt.

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