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Markt & Branche

„Erfolgreiche Geschäftsmodelle haben nicht mehr das Produkt, sondern den Kunden im Fokus“

Ist die Innenstadt noch zu retten? „Ja“, sagt Boris Hedde, Geschäftsführer des IFH KÖLN, im zweistündigen Interview mit infoboard.de Chefredakteur Matthias M. Machan. Denn: „Ich glaube fest an die Innenstadt. Die Zentren sind über Jahrhunderte gewachsen und ein Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Das bleibt!“


Wer sich mit den Themen wie der „Innenstadtentwicklung“ und der „Zukunft des Handels“ befasst, kommt an Hedde (und den forschungsbasierten Markt- und Kundenanalyen des IFH KÖLN) nicht vorbei. Der 49-Jährige ist mit sichtbarer Leidenschaft zum Wohl des Handels unterwegs, bringt Dinge auf den Punkt, scheut sich dabei auch nicht vor unbequemen Wahrheiten, liefert Initiativen, Impulse und Ideen zuhauf.

Dass das Gespräch zunächst Richtung Fußball (da kann sich der Handel in Sachen Emotionalität etwas abgucken) abgleitet, überrascht nicht. Als studierter Sportwissenschaftler ist Hedde seit den Zeiten von Pierre Littbarski leidenschaftlicher Fan des 1. FC Köln, kann von seinem Schreibtisch auf die Flutlichtmasten des Rheinenergie Stadions blicken. Ob Transformation im Fußball oder im Handel: Den Kopf in den Sand zu stecken, das ist keine Option. Da ist der „Stadtretter“ Boris Hedde bekennender Optimist.

Lieber Herr Hedde, was und wo haben Sie zuletzt eingekauft?

Sie werden lachen, aber das waren vor wenigen Tagen Merchandising-Produkte im Fan-Shop des FC Köln. Ein schönes Beispiel dafür, dass Handel vor allem mit dem Wecken von Emotionen funktioniert. Und wo gibt es mehr Emotionen als beim Fußball …

Was kaufen Sie bevorzugt online ein?

Mein letzter Online-Kauf war ein spezieller Tapetenkleister. Das war ein echter Zielkauf, den ich online prima vorbereiten konnte. Ich hatte einen leichten Zugang zum Produkt.

Was muss ein Stadtzentrum heute bieten, um für die Bürger echte Aufenthaltsqualität zu generieren?

Frequenz geht heute mit Freizeitgestaltung einher, die ausschließliche Einkaufsmotivation ist nicht mehr der Trigger für die Innenstadt. Warum sind während der Corona-Krise beispielsweise die Museumsshops so gut gelaufen – weil diese eine Einbettung in den Lifestyle der Menschen bieten. Oder denken Sie an Karneval und die Weihnachtsmärkte. Emotionalität wirkt. Gerade in der Innenstadt.

Als Händler muss ich mich fragen, wie ich es schaffe, die Beziehungen zu meinen Kunden zu erhöhen. Erfolgreich sind dabei die, die mit ihren Kundendaten intelligent umgehen können und die den Handel nicht allein aus der Produktperspektive sehen. Die Kundenzentrierung ist entscheidend. Man muss Anlassbezüge im sozialen Umfeld der Kunden schaffen. Dafür braucht man die fünf „I“s: Information, Inspiration, Involvierung, Identifikation und Interaktion. Die Zukunft muss dahin gehen, dass wir die lokale Bindung stärken. Der Community-Gedanke muss in den Vordergrund rücken.

In der Vergangenheit stand der Produktbedarf im Fokus. Entsprechend war der Handel dann auch das entscheidende Zugpferd. Dort wo Handel war, waren auch die Menschen. Und wo Handel war, siedelten sich andere Anbieter an. Heute, wo die Online-Verfügbarkeit der Produkte in nicht gekannter Form gegeben ist, ist bei der Kundenintention zu differenzieren. Zwar ist Shopping für die meisten noch das Motiv Nummer 1, um in die Stadt zu kommen. Gastronomie, Soziale Interaktion, Freizeit und Kultur bis hin zu Behördengängen oder Arztbesuchen haben aber an Relevanz gewonnen.

Früher hieß es: Wo Handel ist, da ist Frequenz. Heute geht der Handel dahin, wo ohnehin schon Frequenz ist. Bestes Beispiel sind die Bahnhöfe. Derweil sah man im Sommer Discounter, die Pop-up-Filialen auf Musikfestivals eröffneten. Das bedeutet: Der Handel folgt immer öfter seinen Kundinnen und Kunden – und nicht mehr andersherum.

Klar, Mittelzentren werden sich dabei immer eher schwer tun, aber auch hier gibt es Frequenzbringer wie Bäckereien, Volkshochschulen oder Arztpraxen. Die Summe der Aktivitäten macht dann den Schlüssel zum Erfolg aus. Ideal ist natürlich eine aktive Betreuung des Standorts, wenn man so will, ein „Kümmerer“.

Ein „Kümmerer?

Die Funktion des Kümmerers ist essenziell. Gerade wenn unterschiedliche lokale Akteure koordiniert werden müssen und eine interdisziplinäre Arbeit gefordert ist, braucht es eine zentrale Rolle bzw. eine Person die Verantwortung trägt. Je größer der Standort ist, desto mehr muss sich die Frage gestellt werden, ob eine personenbezogene Funktionsübernahme reicht oder ob nicht eine Institution dafür geschaffen werden muss.

„Ich glaube fest an die Innenstadt“

Welche Funktion werden Ortskerne und Innenstädte in Zukunft einnehmen?

Ich glaube fest an die Innenstadt. Die Zentren sind über Jahrhunderte gewachsen. Das bleibt auf jeden Fall, auch weil Städte der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens sind. Doch nur dort, wo man aus Sicht des Besuchers her denkt und eben nicht nur auf die Anbieter und ihre Produkte schaut, ist es erfolgreich. Daher funktionieren regionale Online-Marktplätze meistens nicht.

Ich muss in der Innenstadt einen bürgerzentrierten Mix anbieten, dann bin ich erfolgreich. Multifunktionalität der Innenstadt ist das neue Zauberwort. Aber wie genau ist die Mischung richtig, wie groß muss der jeweilige Anteil von Einzelhandel, Dienstleistungen, Handwerk, Gastronomie und Freizeitaktivitäten sein? Das kann derzeit niemand verlässlich sagen.

„Wer das Leerstands-Thema nicht im Griff hat, hat schon verloren.“

Leerstände sind in vielen Städten ein Thema. Sie trüben das Erscheinungsbild und können scheinbar mangelnde Attraktivität weitere Frequenzverluste nach sich ziehen. Wie kann ich als Kommune dagegen angehen?

Wer das Leerstands-Thema nicht im Griff hat, hat schon verloren. Aber es hilft auch nicht bei der Schaufenstergestaltung aufgegebener Handelsflächen potemkinsche Dörfer zu schaffen. Die Städte benötigen einen Kompass und ein Zielbild. Welche Zielgruppe habe ich und was erwartet diese Zielgruppe von mir.

Mit dem Projekt „Stadtlabore für Deutschland: Leerstand und Ansiedlung“ hat das IFH KÖLN zusammen mit 14 deutschen Modellstädten unterschiedlicher Größe LeAn, eine Plattform für digitales Leerstands- und proaktives Ansiedlungsmanagement in Innenstädten, erarbeitet.

Im Stadtlabor wurde das Werkzeug für zukunftsorientiertes Ansiedlungsmanagement realisiert und erprobt. Standards für ein dialogorientiertes Miteinander im Vitalisierungsprozess zu schaffen war dabei genauso zentral, wie die richtigen Daten für eine nachhaltige Planung zu generieren. Ein digitales Ladenflächenmanagement bietet das Potenzial, nachhaltigen und innovativen Konzepten ein passgenaues Angebot zu unterbreiten. LeAn steht nun für alle interessierten Kommunen in unterschiedlichen förderfähigen Modellen zur Verfügung.

Hand aufs Herz: Man kann noch so viel Innenstadtplaner, Marktforscher und Berater an einen Tisch setzen, an den grundlegenden Rahmenbedingungen, bedingt durch die digitale Transformation und die Polykrisen, lässt sich wenig ändern, oder?

Auch wenn der Konsumverzicht derzeit quer durch alle Branchen geht: Den Kopf in den Sand zu stecken ist keine Option. Die erfolgreichsten Marken Deutschlands, ich verweise u.a. auf Aldi und Lidl, entstanden aus der Krise heraus. Der Handel muss die Krise nutzen, um seine Geschäftsmodelle zu justieren und resilienter zu werden.

Wir müssen mehr Mutmacher in den Fokus stellen, mehr Erfolgs-Cases zeigen, denn die Psychologie ist enorm wichtig. Warum nicht mit neuen, unkonventionellen Geschäftsmodellen Fuß fassen? Beispielsweise mit einem Fashion-Shop, der sich eher als Party-Veranstalter begreift und von 18 Uhr am Abend bis 1 Uhr nachts geöffnet hat.

Natürlich bespielen wir aktuell kein leichtes Terrain, und ich bin auf das Weihnachtsgeschäft gespannt. Mit Blick auf die Kaufkraft ist die Ausgangslage in Deutschland aber weiterhin gut.

Welche Branche und Handelsformen laufen in den Innenstädten eher gut, welche tun sich schwer?

Grundsätzlich: Alle Konzepte, die von den Produkten aus denken, werden sich schwer tun. Kundenzentrierung ist, wie bereits erwähnt, das A und O. Secondhand und Nachhaltigkeit sind Megatrends, die bleiben werden.

Warenhäuser waren früher ein Anker der Innenstädte. Ist die Zeit endgültig vorbei?

Die Warenhäuser sind ein emotional sehr aufgeladenes Thema. Das Konzept „viele Produkte auf wenig Fläche“ ist tot – denn das gibt es ja online. Früher hatten die Kaufhäuser mal rund 15% Marktanteil im gesamten Handel. Heute machen die Kauf- und Warenhäuser bundesweit nur noch 1,5% des gesamten Einzelhandelsumsatzes in Deutschland aus. Per se ist das also nicht mehr von großer Bedeutung.

Lokal kann das natürlich anders sein – und auch einen größeren Anteil haben. Das Schicksal der Innenstädte indes an den Warenhäusern festzumachen, greift zu kurz. Es muss mehr dafür getan werden, dass der Standort selbst attraktiver wird.

Wie steht es, analog zur „customer journey“, um die „visitor journey“ in der Stadt, insbesondere um die Themen Sauberkeit und Sicherheit?

Entscheidend sind die Begeisterungsfaktoren, also die Aufenthaltsqualität und die Wirkung des Erlebnisfaktors. Die Parkplatz-Situation und die Sauberkeit sind bei der „visitor journey“ sicher nicht zu vernachlässigen, aber wir verwenden viel zu viel Zeit auf Themen, die nicht auf den Begeisterungsfaktor einzahlen.

In vielen Städten laufen derzeit große Diskussionen um die Erreichbarkeit der Stadtzentren und gleichzeitig ist der Trend der Verkehrsberuhigung nicht mehr aufzuhalten. Indes ist der ÖPNV vielerorts gar nicht so entwickelt, dass er eine echte Alternative bietet. Bei diesen Themen braucht es auch pragmatische Lösungen.

Mindset-Wechsel gefragt

Was können Händler mit Blick auf ihre Sortimente tun, um für die Kundinnen und Kunden auch weiterhin relevant zu bleiben?

Es gibt ja weiterhin die Lust am Erwerb und der Nutzung der Produkte. Mehr denn je macht aber der Händler den Unterschied. Erfolgreiche Geschäftsmodelle haben nicht mehr das Produkt im Fokus, sondern die Kundin, den Kunden. Die Kundenzentrierung ist entscheidend und der intelligente Umgang mit den Kundendaten.

Digitalisierung hört nicht beim Onlineshop auf. Wenn man von den Konsumentinnen und Konsumenten her denkt, erfolgt der Handel eher beiläufig. Das alte Modell des Handels als Warenverteiler, idealerweise billig einkaufen und dann verkaufen, wird schwierig.

Gefragt ist da ein echter Mindset-Wechsel. Denn egal wie gut eine Idee erscheint, wenn sie nicht aus Kundensicht hergeleitet ist, sollte diese hintenangestellt werden. Wir haben das Zeitalter der höchstmöglichen Kundenzentrierung. Jetzt gilt es, den Kundenerwartungen alles unterzuordnen. Auch wenn es anfangs so scheinen mag, dass die Erwartung der Kunden zu keiner wirtschaftlichen Geschäftstätigkeit führt, so wird ein grundsätzliches Umschwenken dennoch zu einer nachhaltig besseren Wirtschaftlichkeit des gesamten Handelsunternehmens führen. Denn nichts ist wirtschaftlicher als echte Kundenloyalität!

Das komplette Interview mit Boris Hedde lesen Sie im E-Magazin „NRW handelt“, Ausgabe 03-23, des Handelsverbandes NRW hier.

Boris Hedde …

… ist seit Ende 2009 Geschäftsführer des IFH KÖLN. Schwerpunkte seiner Arbeit sind forschungsbasierte Markt- und Kundenanalysen sowie Beratung in den Themenfeldern Handel im digitalen Zeitalter und (kommunaler) Strukturwandel. Boris Hedde leitete federführend die Projekte „Dialogplattform Einzelhandel“ und „Stadtlabore für Deutschland“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, gründete VITAIL – das Kompetenzforum für Handel und vitale Innenstädte, ist Mitinitiator der bundesweiten Initiative “Die Stadtretter” und bedient mit dem IFH KÖLN zudem das Mittelstand Digital Zentrum Handel zur Förderung der Digitalisierung im Mittelstand.

Zudem engagiert sich der 49-Jährige als Mitglied des Digitalisierungsausschusses im Mittelstandsverbund ZGV, ist Jurymitglied der Förderinitiative „Digitalen und stationären Einzelhandel zusammen denken“ des Wirtschaftsministeriums NRW. Hedde ist Experte für die Vitalisierung kommunaler Zentren und treibt im Rahmen seiner Tätigkeit über die durch ihn gegründete LeAn GmbH das digital gestützte Leerstands- und Ansiedlungsmanagement für Kommunen voran.

Boris Hedde ist diplomierter Sportwissenschaftler mit Schwerpunkt Ökonomie sowie Fachreferent für Werbung. In seiner Freizeit ist der zweifache Familienvater begeisterter Anhänger des 1. FC Köln.

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